5.
Welt - Mensch.

Unsre Welt ist im Schatten; aber der Mensch ist höher, als sein Ort. Er sieht empor und schlägt die Flügel seiner Seele auf, und wenn die sechzig Minuten, die wir sechzig Jahre nennen, ausgeschlagen haben; so erhebt er sich und entzündet sich steigend, und die Asche seines Gefieders fällt zurück, und die enthüllte Seele kommt allein, ohne Erde und rein wie ein Ton, in der Höhe an. - Hier aber sieht er mitten im verdunkelten Leben die Gebirge der künftigen Welt im Morgengolde einer Sonne stehen, die hiernieden nicht aufgehet: So erblickt der Einwohner am Nordpole in der langen Nacht, wo keine Sonne mehr aufsteigt, doch um zwölf Uhr ein vergüldendes Morgenroth an den höchsten Bergen, und er denkt an seinen langen Sommer, wo sie niemahls untergeht.

6.
Menschen-Liebe.

Der Mensch liebt heißer und treuer, bey gleicher Gegenliebe und Tugend, die Seele über ihm, als die Seele unter ihm; das sehe ich nicht nur aus der Neigung der Libertins zu rechtschaffenen Mädchen, sondern auch aus der ähnlichen, welche die Affen mehr gegen unsre Weiber, [S. 10] als gegen ihre tragen. So ist auch der Hund mehr Menschenfreund, als Hundsfreund, und den Teufel kann ich mir als Misanthropen gar nicht denken.

7.
Ueber die Kränkungen der Menschen unter einander.

O ihr guten Menschen! warum ist es möglich, daß wir uns unter einander auch nur eine halbe Stunde kränken? - Ach! in der gefährlichen Decembernacht dieses Lebens; mitten in diesem Chaos unbekannter Wesen, die die Höhe oder Tiefe von uns entfernt; in dieser verhüllten Welt; in diesen bebenden Abenden, die sich um unsre zerstäubende Erde legen, wie ist es da möglich, daß der verlassene Mensch nicht die einzige warme Brust umschlinge, in der ein Herz siegt, wie seines, und zu der er sagen kann: "Mein Bruder, du bist wie ich, und leidest wie ich, und wir können nur lieben!" Unbegreiflicher Mensch! du sammlest lieber Dolche auf, und treibest sie, mitten in deiner Mitternacht, in die ähnliche Brust, womit der gütige Himmel deine wärmen und beschirmen wollte!

8.
Die fliehenden Gestalten.

Ich schaue über die beschatteten Blumengründe hin, und sage mir, daß hier sechstausend Jahre mit ihren schönen, hohen Menschen vorübergezogen sind, die keiner von uns an seinen Busen drücken konnte; - daß noch viele Jahrtausende über diese Stätte gehen, und darüber himmlische, vielleicht betrübte Menschen führen werden, die uns nie begegnen, sondern höchstens [S. 11] unsern Urnen, und die wir so gern lieben würden; - und daß bloß ein Paar arme Jahrzehende uns einige fliehende Gestalten vorführen, die ihr Auge auf uns wenden, und in denen das verschwisterte Herz für uns ist, nach dem wir uns sehnen. - umfasset diese fliehenden Gestalten; aber bloß aus euren Thränen werdet ihr wissen, daß ihr seyd geliebt worden! -

9.
Mahlerische Schilderung eines Gewittermorgens.

Durch die ganze Nacht ging ein halb verlorner Donner, gleichsam als zürnte er im Schlafe. Am Morgen vor Sonnenaufgang trat ich hinaus in die mit dem nahen Gewölke verhangene Brautkammer der Natur. Der Mond sank dem doppelten Augenblicke des Untergangs und Vollwerdens zu. Die tief unten auf Amerika, wie auf einem Altare brennende Sonne, trieb den Wolkenrauch ihres Freudenfeuers roth empor; aber ein Morgengewitter kochte brausend über ihr, und schlug ihr seine Blitze entgegen. Das schwühle Brüten der Natur zog heißere und längere Klagen aus den Nachtigallen, und fliegende Gewürze aus der langen Blumenau. Dicke warme Tropfen wurden aus dem Gewölke gepresset, und zerschlugen laut das Laub und den Strom. Endlich warf der untergegangene Vollmond einen Sturmwind herüber ins glühende Gewitter, und die Sonne stand auf ein Mahl siegend unter dem mit Blitzen behangenen Triumphthor. Der Sturm wehte den Himmel blau, und stürzte den Regen hinter die Erde, und um den glänzenden Sonnendiamant lag nur noch das flatternde Foliensilber des zerstäubten Gewölks.
[S. 12] Ach, welcher neugeborne Tag war nun auf der Erde, und lagerte sich in das herrliche Thal! Die Nachtigallen und die Lerchen zogen singend um ihn, und die Rosenkäfer umrauschten seine Lilienguirlanden. Der Adler hing sich an die höchste Wolke, und beschaute ihn von Gebirg zu Gebirg. - Nie ergreife, ruhiges Tempe, ein Sturm diene Gärten! Nie wehe ein stärkerer um dich, als der die Natur sanft wiegt, der den Gipfel des Baumes voll heißer Eyer und Kinder, als eine belaubte Wiege schaukelt, der keine Biene vom Honigthau der Aehre wirft, und der nur die breitesten Flocken der Wasserfälle auf die Uferblumen drängt! -



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